(Auf)Wind und kleine WunderDie Allgäuer Alpen sind die Heimat von Gleitschirmpilotin und Psychologin Yvonne Dathe. Was das Fliegen ihr über sich und das Leben gelehrt hat und wie sich dieses Wissen auch in der Corona-Krise anwenden lässtVon Verena Elisabeth Schümann Früh hegt Yvonne Dathe den Traum vom Fliegen. Bereits als Kind stellte sie sich vor, wie sie von einem Stein springt, abhebt und wenig später wie ein Vogel in der Luft kreist. Damals ahnt sie noch nicht, dass sich der Wunsch nur wenige Jahre später mit dem Gleitschirm erfüllen wird. Yvonnes Eltern trennten sich, als sie gerade ein Teenie ist. Weil sie ihren Vater von nun an weniger oft sieht, sucht sie nach einer gemeinsamen Beschäftigung. Es gilt, die knappe Zeit bestmöglich zu nützen. Und wie gelingt das besser, als beim Fliegen in den Allgäuer Alpen? Das Gleitschirmfliegen wird zu einem gemeinsamen Hobby für Vater und Tochter, das vor allem Yvonne nie wieder loslassen wird. „In der Luft mit dem Schirm aufzudrehen und eine Einheit mit der Natur zu bilden, ist das Schönste für mich“, sagt sie einmal darüber. Mit der Leidenschaft kommt der Erfolg und nach einigen Jahren zählt Dathe zu den besten Gleitschirmpilotinnen Deutschlands. Sie wird Teil des deutschen Nationalteams, bestreitet erfolgreich Wettkämpfe. Dabei hatte sie das Gleitschirmfliegen lange Zeit nur als „Abstiegshilfe“ bei Bergwanderungen betrachtet. Erst durch ihren Lebenspartner Thomas Ide, selbst Gleitschirmpilot, hatte sich ihre Sichtweise geändert. Sie begreift, dass sie neben kurzen auch lange Strecken – bis zu 200 Kilometer weit, am Stück – fliegen kann. „Das hat mir eine ganz neue Welt eröffnet. Wenn man die Gletscher der Tiroler Alpen von oben sieht, wird einem bewusst, wie klein wir Menschen und unsere Probleme sind.“ 2014 nimmt sie an der X-Pyr teil, einem Rennen mit 439 Kilometern Länge, von der spanischen Atlantikküste über die Pyrenäen bis ans Mittelmeer. Weil beim Gleitschirmfliegen das Wetter den Ton angibt, analysiert sie vor jedem Wettkampftag die Luft- und Landkarten des Fluggebiets sehr genau: Woher kommt der Wind? Wie stark ist er? Wo kann Thermik – warme Luft, die nach oben steigt – aufkommen? „Das ist aber auch das Faszinierende am Gleitschirmfliegen: Jeder Tag ist irgendwie anders“, sagt Dathe. Ihr gelingt, was nur wenige schaffen: Sie kommt nicht nur erfolgreich durch die X-Pyr, sondern schafft es im selben Jahr auf den dritten Platz bei den Europameisterschaften. Nur zwei Jahre später ergattert sie die Bronzemedaille im Paragliding World-Cup in Gemona (Italien). Insgesamt wird Dathe fünfmal Deutsche Meisterin im Gleitschirmfliegen. „Mein Sport beschert mir viele wundervolle Momente. Er bringt mich auch in Gegenden auf der Welt, in die ich wahrscheinlich nicht so einfach hingekommen wäre.“ Wie nach Kolumbien, wo sie in der Luft sogar auf Geier trifft. „Mit Vögeln zu fliegen ist sehr besonders. Wenn ich lautlos dahingleite und andere Tiere nicht in ihrem Lebensraum störe, im Gegenteil, sie mich als Teil der Natur akzeptieren und neugierig auf mich sind, mich einen Teil des Weges begleiten, dann ist das magisch.“ Und weil sie ihre Leidenschaften mit anderen teilen möchte, nimmt sie seit 2009 auch andere Menschen als Passagiere auf ihren Höhenflügen im Tandem mit. "Beim Gleitschirmflug hat der Alltag keinen Platz und die Sorgen werden ganz klein", sagt Yvonne Dathe. Quelle: Privat Neben den positiven Erlebnissen gibt es für die 44-Jährige auch heikle Momente. Es passierte auf einem Wettkampf vor rund zehn Jahren. An dem Tag gab es keine starke Thermik, keinen starken Aufwind. Alle Wettkampfteilnehmer befanden sich in der Luft auf ungefähr gleicher Höhe, als ein anderer Pilot plötzlich in den Gleitschirm der Allgäuerin flog und sich darin verfing. Sie stürzten ab, blieben über dem Boden in ein paar Bäumen hängen und waren – wie auf wundersame Weise – unverletzt geblieben. Spurlos war der Unfall dennoch nicht an Yvonne Dathe vorübergegangen. Etwas hatte sich verändert. Jetzt hatte sie Angst, wenn sie gemeinsam mit anderen Piloten in der Luft war. Dann raste ihr Herz, ihre Knie zitterten und ihre Hände wurden schweißnass. Ihr Unterbewusstsein weiß, der Vorfall kann sich wiederholen. Immer wieder muss sie ihre Flüge frühzeitig abbrechen. „Das war hart. Aber das Gleitschirmfliegen ganz aufgeben, kam nie infrage.“ Stattdessen will sie in ihre „alte“ Form zurückfinden. Die Ausbildung zur Mentaltrainerin macht ihr den Weg frei, bietet ihr Hilfe zur Selbsthilfe. Beim Landeanflug in der Türkei. Quelle: Privat Im ersten Schritt schafft sie sich neue Glaubenssätze, die sie sich beim Fliegen vorsagt: „Ich achte auf andere und vertraue darauf, dass sie das auch tun. Das zu wiederholen und dabei meinen Atem bewusst fließen zu lassen, half mir während des Fluges nicht zu verkrampfen. Sicherlich war Angst da, das akzeptierte ich. Die Kunst war vielmehr, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen.“ Durch Entspannungstechniken stabilisiert sie sich, dass sie erneut an Wettkämpfen teilnehmen kann. „Richtig locker war ich da noch nicht. Das kam erst zwei Jahre später. Da hat es im Kopf einfach Klick gemacht. Und das Fliegen fühlte sich wie früher an. Das war ein Befreiungsschlag für mich.“ Heute weiß Yvonne Dathe, das Verarbeiten des Unfalls hatte ihr etwas Wunderbares über sich und für ihre Arbeit als Psychologin beigebracht. „Gleitschirmfliegen ist eine Lebensschule. Hat jemand ein Problem beim Fliegen, hat er es auch in anderen Bereichen des Lebens. Löse ich es beim Fliegen, löse ich es überall.“ Zum Beispiel lehrt das Fliegen dem Ungeduldigen Geduld und Demut. Denn nur eine stabile Wetterlage macht einen Gleitschirmflug erst möglich. Und diese muss ein Pilot abwarten können. Ebenso kann es dem Wankelmütigen beibringen, schnell Entscheidungen zu treffen. Dreht der Wind und Thermik kommt auf, muss der Pilot in der Luft schnell reagieren können, um höher zu steigen. Nur wer rasch auf die Umstände eingeht, hat die Chance weiterzukommen. Klappt es einmal nicht, muss die Situation akzeptiert und gelöst werden. Das fördert sogar die Resilienz und hilft dabei, Krisen wie die derzeitige zu überstehen. Die Corona-Krise ist eine völlig neue Situation, die vielen Menschen Angst macht. Aber auch hier lehrt das Fliegen, was sich im Krisen-Alltag anwenden lässt: Ruhig bleiben, nicht panisch werden, und die Situation realistisch betrachten. Denn eines ist gewiss, wie beim Fliegen, auch im Leben: Irgendwann geht es wieder aufwärts, der nächste Aufwind kommt bestimmt. Seit 2009 nimmt Yvonne andere Menschen als Passage mit dem Gleitschirm mit. Nach Corona soll das wieder eingeschränkt möglich sein. Quelle: Privat Für Yvonne Dathe kann das Gleitschirmfliegen noch weit mehr. „Erst letztens ging mir wieder einmal mein Herz über vor Glück“, erzählt sie. Es war recht spät, als sie mit ihrem Schirm vom Breitenberg im Allgäu losflog. Der Aufwind war weich und sie schwebte förmlich in der Luft. Die Sonne stand tief und verbreitete sanftes Licht am Himmel. „Alles um mich herum fühlte sich so friedlich und ruhig an. Als ich landete, war mein Alltagsstress wie weggeblasen und ich musste vor Freude und Rührung lächeln. Da war mir einmal mehr bewusst, wie sehr ich das Fliegen liebe und dass ich es noch mit 80 tun möchte.“
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